Kopftuch und Schulfriede – Anmerkungen von Wolfgang Harnischfeger

Der Berliner Senat gerät in der Frage, ob eine muslimische Lehrerin in der Schule ein Kopftuch tragen darf, immer stärker unter Druck, denn alle Urteile der letzten zwei Jahre sprechen sich für eine Einzelfallregelung aus. Danach wäre das Berliner Neutralitätsgesetz verfassungsrechtlich nicht haltbar, weil es ein pauschales Kopftuchverbot für Amtsträgerinnen im öffentlichen Raum, insbesondere in der Schule, vorsieht. Einen Ausweg bietet die Bildungsver- waltung für reine Oberstufenschulen an, weil deren Schülerinnen und Schüler reif genug seien, die vom Kopftuch ausgehende Beeinflussung selbst einzuordnen.

Es wird Zeit, dass die Kopftuchdiskussion vom Gerichtssaal in die Schule verlegt wird, und dass sich neben den Juristen auch Pädagogen zu Wort melden und auf die Folgen aufmerksam machen.

Hinter der Berliner Regelung steht ein sinnvoller Gedanke, nämlich die Schule frei von religiösen Auseinander- setzungen zu halten. Die Trennung von Schule und Religion wird in Berlin deutlicher als in allen westdeutschen Bundesländern, wo Religion ein ordentliches Unterrichtsfach ist, das bis ins Abitur notenrelevant sein kann, während in Berlin Religion/Lebenskunde in alleiniger Verantwortung der Religions- und Weltanschauungsgemein-schaften unterrichtet wird und der Staat nur die Räume zur Verfügung stellt.

Für das Neutralitätsgesetz spricht auch der Gedanke, dass Grundschulkinder und junge Jugendliche sich an ihren Lehrkräften orientieren, meist ein erwünschtes Verhalten, Kinder sollen lernen und übernehmen, was Erwachsene ihnen vermitteln. Das gilt für Schule wie für das Elternhaus ganz allgemein, Enkulturation ist der Fachbegriff dafür, die Übernahme von für wertvoll erachteten Inhalten. Es wird eher beklagt, dass dies zu wenig der Fall sei. Von den Befürworterinnen des Kopftuchs wird die Vorbildfunktion der Kopftuchträgerinnen heruntergespielt oder geleugnet. Und in der Tat kann ein Kopftuch ein normales Bekleidungsstück sein, in meiner Jugend trugen viele ältere Frauen Kopftuch, es kann, wie der Blick in Modezeitschriften beweist, sogar ein modisches Accessoire sein, es kann aber auch ein religiöses Bekenntnis darstellen, was in der überwiegenden Zahl der Fälle zutrifft.

Alle traditionell orientierten muslimischen Frauen tragen Kopftuch, insofern ist der Zusammenhang naheliegend. Schule ist jedoch nicht der Ort, an dem Lehrkräfte sich individuell verwirklichen können, sondern Schule dient der Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen, insofern muss ein Individualrecht einer Lehrerin, wenn es denn besteht, hinter einer möglichst freien und ungehinderten Entwicklung und Meinungsbildung in religiösen Fragen zurückstehen. Vergleichbares gibt es zum Beispiel auch im Politikunterricht, wo ein sogenanntes Überwältigungs- verbot besteht, was bedeutet, dass die Lehrkraft ihr überlegenes Wissen nicht so einsetzen darf, dass eine einseitige Beeinflussung der Schüler stattfindet.

Da die Gerichte, bis zum Bundesverfassungsgericht, Einzelfallregelung fordern und als Kriterium den Schulfrieden vorgeben, ist zu erwarten, dass der Senat der Einzelschule die Entscheidung überlässt, wie sie mit kopftuchtragenden Lehrerinnen umgeht.

Alle Schulen stehen also vor folgenden Fragen:

Was versteht man unter »Schulfrieden«?
– Ist er gestört, wenn drei Eltern einer Klasse eine Störung für sich und ihre Kinder feststellen?
– Wer stört dann eigentlich den Schulfrieden? Kann man eine solche Feststellung nicht auch politisch lancieren und damit ein wirksames Betätigungsfeld für rechte Parteien schaffen?
– Ist Schulfrieden ein Zustand, der die gesamte Schule tangiert oder auch einzelne Klassen? Vieles spricht für den Klassenrahmen, denn Friede oder Unfriede besteht unter Menschen, die in Kontakt miteinander stehen, das kann in einer ersten Klasse ganz anders aussehen als in einer sechsten. Aber die Lehrerin einer ersten Klasse hat auch in der sechsten Unterricht, und sie wird dafür ihr Kopftuch nicht abnehmen wollen.
– Ist die Schulkonferenz das geeignete Gremium, per Abstimmung über den Schulfrieden oder seine Störung zu befinden, notfalls gegen die Eltern oder die Lehrkräfte, also gegen die, die für Erziehungsfragen zuständig sind?
Trifft die Schulleitung die letzte Entscheidung?
– Und was die Bezirke angeht: Kann dabei herauskommen, dass eine Lehrerin in Kreuzberg ein Kopftuch tragen darf und in Steglitz nicht, weil es im Stadtbild des einen Bezirks eine Normalität darstellt und im anderen eine Ausnahme?

Die Verwaltung darf die einzelne Schule mit diesen Fragen nicht alleine lassen, sie muss eine verbindliche Entscheidung herbeiführen und diese pädagogisch begründen. Schulen entscheiden auch sonst nicht über Fragen von Verfassungsrang, niemand käme zum Beispiel auf die Idee, sie über Abschaffung oder Weiterführung der Koedukation entscheiden zu lassen. Schulen vertragen, anders als Betriebe, keine Einzelfallentscheidung, sie haben genug Probleme, religiöse, kulturelle und ethnische Spannungen unter den Schülerinnen und Schülern auszugleichen. Wenn jetzt auch noch das Kopftuch einer Lehrerin zum öffentlichen Thema an einer Schule wird, ist der Unfriede vorprogrammiert.

9/17

Der Autor, Oberstudiendirektor i.R., war langjähriger Leiter des Beethoven-Gymnasiums in Lankwitz und Vorsitzender der GEW-Vereinigung der Berliner Schulleiter/innen

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