Stellungnahme zum TSP-Artikel „Warum stellt der Staat Kopftücher auf eine Stufe mit NS-Tattoos? Die Drangsalierung kopftuchtragender Frauen geht weiter.“

Zur Änderung der Regelung des Bundesbeamtengesetzes zum öffentlichen Erscheinungsbild von Beamtinnen und Beamten ist im Tagesspiegel am 28.04.2021 von der Redakteurin Dernbach ein kulturrelativistischer polemisierender Artikel gegen staatliche Neutralität im Öffentlichen Dienst erschienen. Wieder einmal wird die mittlerweile sattsam bekannte Mär von der angeblichen Diskriminierung muslimischer Frauen in den staatlichen Verwaltungen heruntergeleiert – eine offenkundige Lüge, wie alle wissen, arbeiten doch seit Jahren viele muslimische Frauen auf allen Ebenen des Öffentlichen Dienstes. ttps://www.tagesspiegel.de/politik/neues-kopftuchgesetz-warum-stellt-der-staat-kopftuecher-auf-eine-stufe-mit-ns-tattoos/27135900.html

Ulla Widmer-Rockstroh, Sprecherin der Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz nimmt in einem Schreiben an die Autorin Stellung zu diesem Artikel.

„Sehr geehrte Frau Dernbach,

Ihren o.g. Beitrag halte ich für unkorrekt und sehr kritikwürdig.

Das beginnt bei der polemischen Überschrift einer suggerierten Gleichsetzung von nationalsozialistischen Aussagen mit religiös begründeten Kopftüchern von Musliminnenund der Behauptung, dass ein neues Gesetz (erneut) Musliminnen „drangsaliere“.

Es geht auch in Ihrem Beitrag um das Berliner Neutralitätsgesetz, das durch das neue Bundesgesetz  eine Unterstützung erfährt. Für den Erhalt des Berliner NG engagiere ich mich als Mutter und ebenso auch als Grundschullehrerin – auch im Rahmen der Berliner Initiative PRO NG – und kann in diesem sachlichen Gesetz, das ALLE religiösen Symbole und Kleidungen betrifft,  keinerlei „Drangsalierung“ von Musliminnen sehen.

Ich begründe dies im Folgenden für den derzeit besonders heiß umkämpften Schulbereich auch auf Grund meiner Erfahrungen, pädagogisch, nicht juristisch. Ich will das ausführlich tun und vor allem auf unsere Kinder bezogen, weil mich die ständigen Verkürzungen und Vereinseitigungen derer, die immer nur die muslimische verschleierte Frau als „Opfer“ im Auge haben, ärgert.

Jede Muslimin hat in Deutschland die Freiheit, Kopftuch zu tragen. Aber auch sie wie jede/r weiß, dass Kleidung immer eine (auch persönliche) Botschaft enthält; diese Botschaft soll und will auch demonstriert werden, situationsbezogen, kultur- und gesellschaftsbezogen. Anstand, Provokation, Eleganz, religiöse Überzeugung, politische Überzeugung usw. Kinder erlernen durch ihre Eltern auch vermittels der Kleidung Verhaltensweisungen und Haltungen. Auch Lehrer*innen sind in diesem Bereich Vorbilder bzw. Orientierungen.

Es stimmt ja nicht, wenn etwa Senator Behrendt in der sog. „Kopftuchdebatte“ behauptet, es ginge nicht um das, was man auf dem Kopf hat, sondern was im Kopf drin ist. Das ist nicht voneinander zu trennen – was ich IM Kopf habe bestimmt, was ich ihm aufsetze. Meine eigenen Kinder (und jetzt auch Enkelkinder) wie meine Schüler*innen haben immer (egal in welcher Altersstufe) meine Kleidung wahrgenommen und kommentiert (!) und deshalb auch halte ich es für richtig, dass wir – auch in Schulkollegien – unsere Kleidung und unser Erscheinungsbild ernst nehmen. Eine 5jährige fragte mich vor einiger Zeit, warum sich manche Frauen „den Kopf so verwickeln und im Sommer keine T-Shirts anziehen“ (und sie hatte sogar erstaunt festgestellt, da sie eine Spielkameradin in einer streng-gläubigen muslimischen Familie hat, dass diese Frauen das nur draußen und vor nicht-familiären Männern tun); und als ich ihr erklärte, dass diese Frauen in ihrem Glauben an Allah davon überzeugt sind, dass sie ihre Haare und ihre Haut fremden Männern als ordentliche Frau nicht zeigen dürften, fragte sie, warum denn dann sich Männer nicht „zuwickeln“, wenn sie an Allah glauben und ob ich eine „unordentliche“ Frau sei. (Das Gespräch war lang und ernsthaft.)

Ich will damit verdeutlichen, dass schon junge Kinder Kleidungsbotschaften wahrnehmen und hinterfragen. Und deshalb halte ich es für hochproblematisch, wenn Lehrerinnen, die – insbesondere in der Grundschule –  wichtige Vorbilder und Orientierungen für die Kinder sind, religiöse, weltanschauliche, politische Botschaften mit ihrer Kleidung demonstrieren. Ich habe junge verschleierte Frauen gefragt, was sie ihren Schüler*innen auf deren Fragen zu ihrer Kleidung erklären würden  oder gesagt haben; Antworten: „Ich mache das für Allah.“/ „Das darf ich dir nicht sagen.“ / „Ich will das so.“ /“Ich weiß nicht, kommt drauf an.“ Das sind Versteckspiele! Werden Kinder so ernst genommen und zu kritischem Nachdenken erzogen?

Die Schulklasse, in der die Schüler*innen verpflichtet (!) sind, täglich die Pädagog*innen und ihren Einfluss zu erleben (auszuhalten, muss ich leider als Lehrerin auch kritisch feststellen), muss ein Ort sein, in dem Kinder nicht durch Autoritäten auf bestimmte weltanschauliche oder politische Haltungen eingeengt werden. Sie müssen offen und vertrauensvoll der Lehrerin /dem Lehrer ihre (kritischen) Fragen stellen oder Probleme erzählen dürfen.

Kann das ein Kind aus einer Familie, in der Verschleierung kritisch gesehen wird, wenn die Lehrerin sich aber verschleiert? Kann das ein Kind aus einer Verschleierung fordernden Familie, wenn die Lehrerin sichtbar dieses Frauenbild mit ihrer Kleidung bestätigt? Ein Frauenbild, das wir in europäischen Gesellschaften zu überwinden uns bemühen! (Die vielfach dargelegten Begründungen für Verschleierungen erspare ich mir hier.

Wenn von Feministinnen und verschleierten muslimischen Frauen behauptet wird, sie trügen „selbstbestimmt“ Kopftuch, ändert das nichts an den kaum emanzipativen Botschaften, die diese Verschleierung aber aussenden; oder sie wollen sich sichtbar von den anderen Frauen unserer Gesellschaft abgrenzen, was ich nicht gerade für kooperativ halten kann. Sie haben für dieses Verhalten in unserer Gesellschaft die Freiheit, ja, aber bitte nicht in pädagogisch bedeutsamen Einflussbereichen.)

Deshalb halte ich auch das Kruzifix im Klassenraum für absolut falsch – und bin heilfroh, dass wir das in Berlin und den meisten deutschen Schulklassen nicht (mehr) haben. Vor 100 Jahren mit dem Reichsschulgesetz wurde die kirchliche Schulaufsicht für die öffentlichen Schulen in Deutschland  glücklicherweise abgeschafft, d.h. religiöser Einfluss und Bevormundung sollten beendet werden.

Wenn Eltern ihre Kinder ausdrücklich und sichtbar religiös erziehen lassen wollen, haben sie die Freiheit, ihre Kinder in konfessionellen Schulen anzumelden. Diese Privatschulen (weitgehend staatlich finanziert!) bietet unsere Gesellschaft an. Dort können Nonnen unterrichten, dort können verschleierte Frauen unterrichten….

Sie erwähnen in ihrem Beitrag, dass sich inzwischen ein zunehmender Teil von Kindern aus muslimischen Familien in unseren Schulen befindet. Ja, aber das kann doch nicht heißen, dass der Islam immer sichtbarer in unseren Schulen werden muss. Ich bin im Rheinland aufgewachsen, in den 50ger Jahren. Ich kenne den Druck, den streng religiöse Menschen, auch in Schulen, gegeneinander ausüben. Als engstirnig und intolerant habe ich das erfahren. Aber glücklicherweise ist auch dort die Sichtbarmachung des christlichen (insbes. katholischen) Glaubens in Schulen (Nonnenhabit, Kreuze) zunehmend überwunden. Als ich als Studentin nach Westberlin kam, habe ich sofort die religiöse Unabhängigkeit mit Erleichterung erlebt.

In meinen Schulklassen befanden sich immer verschiedene Religionen; das spielte für unsere Klassengemeinschaften jahrzehntelang keine Rolle – bis die Zahl der strenggläubigen Familien stieg und plötzlich auch mal weinende Kinder in meinen (Weddinger) Klassen saßen, weil sie als „nichtgläubig“ beschimpft wurden. Das berichten auch zunehmend Kolleg*innen aus Berliner Bezirken, in denen die Zahl der strenggläubigen Familien wächst und mit ihnen Druck und Anspruch an religiös konnotierte Kleidung und Verhaltensweisen (seitens mancher Eltern und Kinder, insbes. Jungen). Wer wird hier eigentlich „drangsaliert“?

Was würde in den Schulen passieren, wenn auch Lehrer*innen mit Verschleierung das Bild mitbestimmen,  wenn immer mehr Pädagog*innen mit sichtbaren religiösen Kleidungsbotschaften auftreten wollen und damit auch strenggläubiges Denken bestärken – statt Liberalität und Unabhängigkeit? „Vielfalt“? Vielfalt ist nicht eoipso positiv, muss differenziert betrachtet werden. Ein „buntes, vielfältiges“ Straßenbild ist nicht einfach mit einer Schulgemeinschaft gleichzusetzen.

Müssen wir nicht auch sehen, dass hier gesellschaftliche Spaltungen auch im pädagogischen Bereich befördert werden können? Es ist wohl nicht abwegig sich vorzustellen, dass verschleierte Lehrerinnen vorwiegend in unseren muslimisch geprägten (Schul-)Bezirken Einstellung suchen. Entstehen dann auch im Schulbereich verstärkt Parallelgesellschaften?

Es ist doch auch bemerkenswert, dass in den letzten Jahren viele Pädagog*innen aus der Schulpraxis gerade aus den „Brennpunktbezirken“ mit sehr hohem Anteil muslimischer Familien (mit Parallelgesellschaftsentwicklungen)  ffentlich warnend im Interesse des Neutralitätsgesetzes Stellung genommen haben.

Ich äußere und verhalte mich NICHT antimuslimisch oder „rassistisch“! Weil mir das manchmal, wenn ich argumentiere wie oben, von fanatischen Feministinnen an den Kopf geknallt wird, will ich andeuten, wie sehr ich mich in meinen Weddinger Schulklassen für bereits kopftuchtragende kleine Mädchen eingesetzt habe – damit sie am Sportunterricht teilnehmen durften, damit sie an Klassenfahrten teilnehmen konnten. Ich musste mit Vätern und Brüdern (!) debattieren, mir wurde die Hand nicht gereicht (eine selbstverständliche und respektvolle Höflichkeitsgeste in unserer europäischen Gesellschaft!), weil ich eine Frau bin. Ich habe trotzdem geduldig erklärt und die Eltern zu überzeugen versucht, dass der Sport und die Reisen für die Entwicklung ihrer Mädchen wichtig sei und habe zum Glück immer erreicht, dass die Kinder überall mitmachen durften. Ich brauchte übrigens keine religiöse Kleidung, um das Vertrauen der Familien zu gewinnen.

Es ist kein „Drangsal“ oder ein „Berufsverbot“, wenn strenggläubige Musliminnen in Verschleierung nicht in den öffentlichen Schuldienst eingestellt werden. Wenn eine solche Muslimin praktizierende Lehrerin werden möchte, bietet die BRD, wie schon erwähnt, Privatschulen an. Auch Frau Ludin unterrichtet an einer solchen. Auch Nonnen können im Habit in katholischen Schulen unterrichten und akzeptieren dies. Also, wo ist das „Berufsverbot“? Wo ist die „Drangsalierung“?

Es wird in der Neutralitäts-Debatte – die ich mehrfach auch in öffentlichen Veranstaltungen in den letzten Jahren erlebte – oft nur einseitig von „diskriminierten“ Frauen gesprochen und  sie werden beschrieben (oder beschreiben sich selbst) als in ihren Freiheiten beschnittene „Opfer“. „Freiheit“ bedeutet nicht, egal wo und wie alles tun zu können. Wie aber werden die Freiheiten der Kinder eingeschränkt, welche Unterdrückungen erfahren sie? Auf diese Überlegungen wird in den feministisch dominierten Debatten nicht eingegangen.

Ich finde schlimm, wenn (dass ?!) uns religiöse Unabhängigkeit und Neutralität in unserer Einwanderungsgesellschaft verloren gehen. Dieses versucht das neue Bundesgesetz zu verhindern. Ich finde es mehr als abwegig, wenn Sie dieses Gesetz und das NG als „Drangsalierung“ diskreditieren.

Tattoos mit politischen oder religiösen Botschaften gehören selbstverständlich nicht in einen pädagogischen Raum wie der Schule. Nirgendwohin! Niemand setzt bei sachlicher Argumentation NS-Symbole – die gegen unsere demokratische Verfassung verstoßen (und dies auch wollen) – mit anderen politischen oder religiösen Symbolen und Aussagen gleich. Auch das Gesetz nicht. Ihre Beitragsüberschrift nehme ich deshalb als unkorrekt und polemisch wahr.

Die AfD (die gern in diesen Zusammenhängen erwähnt wird) teilt nicht die differenzierende Argumentation von Demokraten; wir wissen alle, dass sie plump auf Züge aufzuspringen sich bemüht. Auch die NG-Verteidiger*innen distanzieren sich entschieden von der AfD und sind nicht mit ihr in einen Topf zu werfen – das ist doch eindeutig!

Ich grüße Sie freundlich und antworte gern auf Nachfragen!

Ulla Widmer-Rockstroh“ Ende April 2021

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