Veröffentlicht: 10. Februar 2023
Wir sind in großer Sorge, da das Bundesverfassungsgericht die Berliner Beschwerde gegen das Bundesarbeitsgericht nicht zur Entscheidung angenommen hat. Wieder wird eine Gelegenheit nicht wahrgenommen eine klare Regelung vorzugeben. Die Schulen bleiben wieder einmal mit der Beweislast zurück, warum der Schulfrieden konkret bedroht sei. Insbesondere in diesen schwierigen und herausfordernden Zeiten mit multiplen Krisen, wäre eine klare, einheitliche Regelung, wie es das Berliner Neutralitätsgesetz ist, besonders wichtig.
Wir weisen nachdrücklich darauf hin, Schule ist ein besonders schützenswerter Raum, in dem Wissen neutral und wertfrei vermittelt werden soll. Der deutsche Staat hat sich zur Neutralität verpflichtet. Wer für den Staat in Verwaltung, Justiz oder im Schuldienst arbeitet sollte sich mit dieser Neutralität identifizieren und diese ausstrahlen. Das Tragen von Kopftuch, Kippa oder Kreuz verkörpert für uns keine Neutralität. Der öffentliche Bildungsraum ist dafür da, alle Kinder im selbstständigen, demokratischen und freien Denken zu schulen. Der staatliche Erziehungsauftrag umfasst Kinder zur Reflexion anzuregen und auf ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung vorzubereiten. Der Raum Schule sollte daher frei von allen religiösen und weltanschaulichen Symbolen sein.
Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung bringt eine inhärente Normenkollision mit sich. Auch das müssen wir als Gesellschaft und in der Politik aushalten und in den Diskurs gehen. Die BefürworterInnen des Kopftuchs argumentieren mit der Religionsfreiheit der Lehrkräfte. Dabei wird außer Acht gelassen, dass die (negative) Religionsfreiheit nicht nur die Lehrkräfte, sondern auch die der SchülerInnen- und Elternschaft betrifft. Schule muss ein Ort der neutralen Wissensvermittlung sein, an dem religiöse, weltanschauliche und politische Indoktrination ausgeschlossen sein müssen.
Wir unterstützen das Berliner Neutralitätsgesetz und setzen uns auch für ein integratives, wertevermittelndes Fach „Ethik“ an allen öffentlichen Schulen als Pflichtfach anstelle eines konfessionell gebundenen Religionsunterrichts ein.
Unser Grundgesetz ermöglicht und fordert eine Erziehung zur Freiheit und Demokratie sowie zu selbstbestimmten Persönlichkeiten. Für dieses hohe Gut sind Eingriffe in andere Grundrechte notwendig. Wir vertreten die feste Überzeugung, dass Schule ein Ort ist, wo von allen persönlichen Partikularinteressen zurückgestellt werden sollten. Das Partikularinteresse einer Lehrerin mit Kopftuch, eines Lehrers mit Kippa oder einer Lehrkraft mit Kreuzkette darf nicht zulasten eines neutralen, öffentlichen Bildungsraums gehen.
Diversität ist begrüßenswert, sie darf allerdings nicht mit einer falsch verstandenen Toleranz verwechselt werden. Aus westlicher Sicht neigen wir, das Kopftuch aus einer nicht-politischen Perspektive zu sehen. Das Kopftuch im politischen Islam manifestiert die Ungleichbehandlung von Mann und Frau. Sie sind nicht gleichberechtigt. Die Frau muss ihre Haare vor den Blicken der Männer verbergen (Verhüllung sexueller Reize). Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam wurde u.a. von den Hauptflüchtlingsländern wie Syrien, Iran, Irak und Somalia unterzeichnet. Sie kann als muslimischer Gegenentwurf zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gesehen werden und gilt als einflussreiche konzeptionelle Leitlinie für die Gesetzgebung der einzelnen Mitgliedsstaaten. Frauen werden in der Kairoer Erklärung zwar gleich an Würde, aber nicht gleich an Rechten zu Männern verstanden. Der politische Islam ist nicht mit den Grundwerten unserer Demokratie vereinbar. Die Gleichberechtigung von Frau und Mann, die Freiheit (z. B. religiös zu sein oder nicht) und Selbstbestimmung (z. B. über den eigenen Körper und die eigene Sexualität selbst zu bestimmen) sind mit die wichtigsten Errungenschaften in unserer Demokratie.
Aus der Praxis und aus der Wissenschaft wissen wir, dass Mädchen muslimischen Glaubens religiöses Mobbing erleiden können, wenn sie kein „Kinderkopftuch“ tragen. In Extremfällen werden sie als „Schlampen“ und „unreine Huren“ bezeichnet. Andere tragen ein „Kinderkopftuch“, um soziale Anerkennung ihrer MitschülerInnen zu erhalten, wenngleich sie selbst aus säkularen Familien stammen. Lehrerinnen mit Kopftuch befrieden das Thema religiösen Mobbings und den Druck um soziale Anerkennung nicht. Vielmehr haben sie Vorbildfunktion und können die schwierigen Themen in verschiedene Richtungen verstärken.
Im Weiteren sehen wir eine Gefahr der Aushöhlung von anderen Bereichen wie Justiz und Polizeidienst, die das Berliner Neutralitätsgesetz ebenfalls umfasst. Berlins Justizsenatorin Kreck fordert bereits eine Überprüfung dieser Bereiche. Wir sind in großer Sorge, dass die nicht zur Entscheidung angenommene Berliner Beschwerde gegen das Bundesarbeitsgericht nachhaltige negative Folgewirkungen mit sich bringen wird.
Berlin hat als Hauptstadt und Regierungssitz von Landes- und Bundesregierung enorme Strahlkraft. Umso wichtiger ist die Vorbildfunktion, dass der Staat und seine AmtsträgerInnen neutral, säkular und unabhängig auftreten. Wir fordern daher eine rechtssichere Weiterentwicklung des Berliner Neutralitätsgesetzes, das die Justiz, die Polizei und den öffentlichen Schuldienst umfasst.
Wir werden uns weiterhin für ein demokratisches und säkulares Schul- und Rechtssystem einsetzen. Daher fordern wir nachdrücklich, dass Schule ein neutraler und säkularer Raum bleibt und das Neutralitätsgesetz beibehalten wird. Im Iran riskieren und opfern die mutigen Demonstrierenden ihr Leben für einen säkularen und demokratischen Staat. Die Parole „Frau Leben Freiheit“ zeige dies ausdrücklich, so die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi. Sie führt aus, dass nur in einem säkularen Rechtsstaat Mädchen und Frauen die gleichen Rechte haben. Wir laufen in Deutschland Gefahr, die Errungenschaften von Emanzipation, Gleichberechtigung und Säkularität im Namen einer falsch verstandenen Toleranz auszuhebeln.
Christa Stolle
Bundesgeschäftsführerin TERRE DES FEMMES
Hinterlasse jetzt einen Kommentar