Naila Chikhi (terre des femmes): Warum ich für den Erhalt des Berliner Neutralitätsgesetzes eintrete

 

„Die Schule ist kein Ort der Bekehrung, sondern ein Ort, an dem die Werte der Aufklärung vermittelt werden sollen. Dort gilt es, das zu kultivieren, was verbindet, anstatt auf das zu setzen, was unterscheidet.“

Naila Chikhi

 

Naila Chikhi ist eine Erstunterzeichnerin des Aufrufs zum Erhalt des Berliner Neutralitätsgesetzes. Sie ist bei der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES als Referentin für Flucht und Frauenrechte tätig.

Die Muslimin  Chikhi setzt sich engagiert dafür ein, dass das Berliner Neutralitätsgesetz nicht aufgeweicht wird. Aufgrund ihrer eigenen Biografie und den vielfältigen Erfahrungen aus ihrer beruflichen Tätigkeit kommt sie zu einem eindeutigen Votum:

„Gerade in unseren angespannten Zeiten funktioniert für mich das Neutralitätsgesetz wie ein Anker, der das wogenumtoste Schiff der heutigen Gesellschaft vor dem Abdriften bewahrt.

Einerseits nutzen Rechtsextremisten jede Gelegenheit, um Fremdenfeind- lichkeit zu säen. Anderseits fordern linksliberale Stimmen das Prinzip des Pluralismus und betreiben dabei nicht selten einen kulturellen Relativismus. Beides fördert nur die Bildung von nebeneinander lebenden Gemeinschaften und toleriert sogar nicht selten gravierende Ungerechtigkeiten oder gar Menschenrechtsverletzungen vor allem gegenüber weiblichen Migranten.

Das Neutralitätsgesetz garantiert zumindest eine Annäherung an den Menschheitstraum von Gleichheit und Freiheit, es symbolisiert die überaus wichtige Stimme der Mitte. Und es garantiert vor allem den ZuwanderInnen bessere, gerechtere und unparteiische Lebensbedingungen als in vielen ihrer Heimatländer.“

Lesen Sie im Einzelnen, warum Naila Chikhi für den Erhalt des Neutralitätsgesetzes eintritt:

„Das Neutralitätsgesetz ist zukunftsweisend für Europa und die Welt, zumindest haben ich und viele andere das immer so empfunden. In ihm kristallisieren sich sozusagen die langen und mühsamen Kämpfe vieler in allen Kulturen zu findenden VorstreiterInnen der Aufklärung, der Menschenrechte und des Säkularismus. Ohne deren Errungenschaften hätte ich heute als deutsche Frau mit algerischen Wurzeln und muslimischer Erziehung nie ein solch freies und selbstverantwortliches Leben in Europa aufbauen können.

In meinem Herkunftsland gilt eine Religion als Staatsreligion, deren Doktrin sich kaum jemand entziehen kann. Aus diesem Grund bin ich heute der Auffassung, dass ein demokratischer Staat sich nicht durch einen Glauben oder eine Weltanschauung, sondern durch ein integratives gesellschaftliches Modell zu definieren hat. AmtsträgerInnen personifizieren den Staat.

Ostentative Symbole drücken eine starke persönliche Überzeugung aus. Sie sind eine non-verbale Botschaft und haben einen besonderen Effekt, vor allem wenn sie von RichterInnen, PolizistInnen oder LehrerInnen getragen werden. Sie können schnell unbegründete Ressentiments erzeugen. Vor diesem Hintergrund garantiert das Neutralitätsgesetz, dass die BürgerInnen keiner religiösen oder weltanschaulichen Beeinflussung durch StaatsvertreterInnen ausgesetzt werden und keine unbegründete Bevorzugung oder Benachteili- gung erfahren müssen.

In diesem Sinne verstärkt das Neutralitätsgesetz das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und schwächt die Sonderrechte ab. In unserer modernen vielfältigen (multikonfessionellen und -ethnischen) Gesellschaft darf weder eine Privatperson noch eine Gemeinschaft über Privilegien verfügen. Das Einräumen von Sonderrechten für Gemeinschaften innerhalb der Gesamtge- sellschaft öffnet Tür und Tor für eine Spaltung sowohl unter den Migranten als auch mit der Aufnahmegesellschaft.

Vor allem in der Schule ist der Erhalt des Neutralitätsgesetzes unentbehrlich. Denn die Schule ist kein Ort der Bekehrung, sondern ein Ort, an dem die Werte der Aufklärung vermittelt werden sollen. Dort gilt es, das zu kultivieren, was verbindet, anstatt auf das zu setzen, was unterscheidet. Ostentative Symbole verstärken stereotypisches Denken und Vorurteile. Eine Aufwertung der ethnischen oder konfessionellen Zugehörigkeit der SchülerInnen oder des Lehrerspersonals würde alle Bemühungen um die Inklusion zunichte machen. Vor diesem Hintergrund ist für mich das Neutralitätsgesetz die beste Grund- lage für ein zusammenschweißendes soziales Projekt.

Im Laufe der Geschichte und noch heute zeigt sich in vielen Ländern, welche dramatischen Folgen die Überbetonung religiöser Rechte oder ideologischer Überzeugungen für ganze Gesellschaften haben kann. Die ersten Leidtragenden sind meist die Frauen. So zahlen etwa die muslimischen Frauen und Mädchen, die sich gegen eine Verschleierung wehren wollen, an vielen Orten der Welt immer noch einen hohen Preis. Das Neutralitätsgesetz gewährt ihnen zumindest in unserem Land einen Schutzraum, sich dem Diktat einer konservativen und patriarchalen Auslegung ihrer Religion zu entziehen.

Gerade in unseren angespannten Zeiten funktioniert für mich das Neutralitätsgesetz wie ein Anker, der das wogenumtoste Schiff der heutigen Gesellschaft vor dem Abdriften bewahrt. Einerseits nutzen Rechtsex- tremisten jede Gelegenheit, um Fremdenfeindlichkeit zu säen. Anderseits fordern linksliberale Stimmen das Prinzip des Pluralismus und betreiben dabei nicht selten einen kulturellen Relativismus. Beides fördert nur die Bildung von nebeneinander lebenden Gemeinschaften und toleriert sogar nicht selten gravierende Ungerechtigkeiten oder gar Menschenrechtsverletzungen vor allem gegenüber weiblichen Migranten.

Das Neutralitätsgesetz garantiert zumindest eine Annäherung an den Menschheitstraum von Gleichheit und Freiheit, es symbolisiert die überaus wichtige Stimme der Mitte. Und es garantiert vor allem den ZuwanderInnen bessere, gerechtere und unparteiische Lebensbedingungen als in vielen ihrer Heimatländer.

Hundertprozentige Neutralität im Wortsinn ist tatsächlich unmöglich, dennoch schafft das Gesetz eine ethisch verbindliche Orientierung für alle VerantwortungsträgerInnen in der Justiz, der Polizei und besonders im Schulwesen. Gerade dank dieser Errungenschaft konnte ich mich bei meiner Ankunft in Deutschland dem sozialen und religiösen Druck meiner Gemeinde entziehen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen.“

 Naïla Chikhi, Februar 2018

 

 

 

1 Kommentar

  1. Der religionsfreie Staat ist eine europäische Errungenschaft, die wir im 18. und 19. Jh gegen die christlichen Kirchen erkämpfen mussten, in einer Zeit wo die christliche Lebensanschauung die einzige gültige war. Das war der Schlüssel der Integration für jüdische MitbürgerInnen und die Grundlage für die Glaubensfreiheit aller. Erst durch Staatsneutralität ist Atheismus überhaupt möglich.

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