Sehr geehrter Herr Lehming!
Ich trage die Initiative zum Erhalt des Berliner Neutralitätsgesetzes als ehemalige Grundschullehrerin in Berliner Grundschulen mit, ebenso wie ich mit anderen Kolleg*innen im April 2017 bereits einen entsprechenden Appell an den Berliner Senat adressiert hatte. Nein, wir sind keine
„Fundamentalisten“ und wir stellen kein „eigenes Wertesystem über das unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und unsere Verfassung. Das ist simple Polemik, Herr Lehming!
Die religiöse Neutralität in unseren Schulen, die wir als Pädagog*innen zeigen müssen, ist in Deutschland lange erkämpft und ist uns ein hohes, zu bewahrendes Gut gerade im Interesse unserer demokratischen Grundordnung; und vor allem auch, um damit unsere Schüler*innen zu schützen. In Auseinandersetzungen zwischen katholischer und evangelischer Glaubensausübung wurde früher bei uns Druck auf Kinder ausgeübt, jetzt wiederholt sich das in der muslimischen Community. Das erleben wir Pädagog*innen in den Schulen ständig und zunehmend, insbes. in den Bezirken, in denen viele (Grund-)Schulen weit über 50 % Schüler*innen aus muslimischen Familien mit Migrationshintergrund haben.
Nur ein paar Beispiele aus dem täglichen Schulleben, allein zur Symbolik und Bedeutung religiös bestimmter Kleidung (Kopftuch):
– Immer mehr Mädchen müssen , sogar bereits ab 1. Schuljahr, auf Wunsch ihrer Eltern Kopftuch und lange Kleider tragen, weil nur das “anständig“ und „züchtig“ ist;
– Mädchen werden von Mitschülern als „Schlampe“ und Hure“ beschimpft, wenn sie sich nicht so kleiden;
– Mädchen werden von Mitschülern, Brüdern, Nachbarn bei den Eltern verpetzt, wenn sie das Kopftuch ablegen (wollen) bzw. fürchten diesen Community-Druck – die Kinder erlernen also frühzeitig Hinterhältigkeit und Misstrauen;
– Mädchen erzählen, dass sie Kopftuch tragen, weil der Vater ihnen monatlich beträchtliche Geldsummen dafür zahlt;
– Schulleiter*innen werden um Umschulung gebeten, weil das Kind auf der anderen (Grund-) Schule den Druck (konservativer) muslimischer Mitschüler nicht mehr erträgt (Kleidung, Fasten usw.);
– Lehrer*innen werden von muslimischen Jungen verächtlich als „Ungläubige“ bezeichnet, was man ja allein schon an der Kleidung sehe.
Die Beispiele können erweitert werden.
Was bewirkt in diesem Klima die Pädagogin, die ebenfalls demonstrativ Kopftuch oder ein weiteres religiös motiviertes Kleidungsstück trägt? Und was sollen diese Kleidungsstücke grundsätzlich und durch die Pädagogin signalisieren? Pädagog*innen sind Orientierungs-Modelle für ihre Schüler*innen. Eine Kopftuch oder Tschador tragende Pädagogin demonstriert ihre orthodoxe Glaubenseinstellung und damit die Einstellung gleichgesinnter Eltern und ihrer Kritik an Musliminnen, die sich „nicht züchtig“ verhüllen. Hier erfolgt subtiler Druck, auch wenn diese Pädagoginnen nicht missionieren wollen.
Ich kenne das „Gegenargument“, dass gerade Musliminnen, die Kopftuch tragen, „vermittelnd“ gegenüber orthodox religiösen Familien auftreten können. Soll das heißen, dass ich als nicht religiös erkennbare Pädagogin meine Nichtachtung durch diese Familien akzeptieren soll?
Herr Lehming, Sie kennen die Schulwirklichkeit nicht, die sich gerade in den letzten Jahren gewaltig geändert hat, gerade in stark oder mehrheitlich muslimisch geprägten Schulen – eine zunehmende Entwicklung in Richtung religiöser Einseitigkeit und gerade nicht in Richtung Aufgeschlossenheit, Toleranz und gegenseitigen Respekts. Es ist doch interessant, dass sich gerade Pädagog*innen aus den Brennpunktbezirken mit ihrer Unterschrift für den Erhalt des NG einsetzen.
Und Sie machen sich leider auch keinerlei Gedanken um die Gefühlslage und die Rechte der Kinder, die unter religiös motiviertem Druck aufwachsen müssen. Über diese Kinderrechte wird im Kontext der NG-Debatte leider allzu oft gar nicht gesprochen!
Ulla Widmer-Rockstroh
Berlin-Wilmersdorf
Grundschullehrerin (i.R.)
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