Laurence Kirmer: Warum ich für den Erhalt des Berliner Neutralitätsgesetzes eintrete

Die  Dipl. Pädagogin Laurence Kirmer (Berlin) hat den Aufruf zum Erhalt des Berliner Neutralitätsgesetzes unterschrieben. Warum, hat sie in einem persönlichen Beitrag für die  WebSite der Initiative so begründet:

 

„Das Neutralitätsgesetz besagt, dass keine religiösen oder politischen Zeichen im Bereich Schule und in öffentlichen Behörden gezeigt werden. Damit hat das Gesetz bereits eine bildende Funktion: Ein Individuum tritt mit seinen persönlichen Ansichten und Vorstellungen seines Lebens zurück für den gesellschaftlichen Auftrag der Bildung, d.h. für den Auftrag der Vermittlung von Faktenwissen und demokratischer Prinzipien.“

„Wird dieses Gesetz hier in Berlin, einer Stadt mit einer pluralen Gesellschaft, abgeschafft, heißt es für eine Gruppe von Kindern und Erwachsenen einem religiösen, traditionellen und politischen Druck ausgesetzt zu werden. Die Folgen sind Anpassung, Habituation oder Flucht.“

Laurence Kirmer

 

Lesen sie den vollständigen Text:

 

Für den Erhalt des Neutralitätsgesetzes

Die Initiative für den Erhalt des Neutralitätsgesetzes unterstütze ich, da ich für die Trennung von weltlichen und religiösen Themen in öffentlichen Bereichen wie Justiz, Schule und Bildung bin. Religion ist eine intime und private Angelegenheit, dagegen geht es im Bereich Schule um das Ziel der Bildung, der Wertevermittlung, des sozialen Lernens und der Förderung der Regulationsfähigkeit. Es geht zusammenfassend um Demokratieerziehung innerhalb einer pluralen Gesellschaft. Jedes einzelne Individuum hat ein Recht auf die Förderung seiner persönlichen und schulischen Entwicklung hin zu einer eigenständigen Persönlichkeit mit zufriedenstellenden Beziehungen und der Fähigkeit zu einem unabhängigen Urteilsvermögen und der freien Meinungsäußerung.

Daher plädiere ich an der Stelle auch für einen Ethikunterricht ab der ersten Klasse, dessen Rahmen für alle Kinder miteinander ein Unterrichtsangebot bedeutet. Im Ethikunterricht, in dem es ja um das gute Leben geht, könnte allen Kindern gemeinsam das Wissen über Religionen, die Entstehung religiöser Weltanschauungen, über Philosophie und über die Entstehung demokratischer Gesellschaftsformen vermittelt werden. Der Erhalt des Neutralitätsgesetzes gewährleistet diesen freien Raum und schafft den Schutz und die Sicherheit für alle Kinder, miteinander zu lernen. Gleichzeitig dient er präventiv dem Schulfrieden, denn die Kinder lernen nicht nur von klein auf, sich Gedanken zu machen und eigene Meinungen zu bilden, sondern auch unterschiedliche Sicht- und Lebensweisen kennen und akzeptieren. Lange noch nicht ist die Unabhängigkeit der Schulkarriere von Herkunft und Schicht gewährleistet, zusätzlich zu trennen zwischen weltlich und religiös, bedeutet abzulenken von den dringenden Problemen in der hiesigen Bildungspolitik.

Die Trennung von Kirche und Staat gibt es hier nicht. Wir haben hier keinen laizistischen Staat wie in Frankreich seit 1905  oder ehemals in der Türkei. Doch wir haben in Berlin das Neutralitätsgesetz. Das Neutralitätsgesetz besagt, dass keine religiösen oder politischen Zeichen im Bereich Schule und in öffentlichen Behörden gezeigt werden. Damit hat das Gesetz bereits eine bildende Funktion: Ein Individuum tritt mit seinen persönlichen Ansichten und Vorstellungen seines Lebens zurück für den gesellschaftlichen Auftrag der Bildung, d.h. für den Auftrag der Vermittlung von Faktenwissen und demokratischer Prinzipien.

Die Kinder lernen in der Schule ab der ersten Klasse Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Sprechen und Dialoge führen, Meinungen austauschen und Reflektieren, und all dies nunmehr unabhängig von Familie und Herkunft, sondern verpflichtend im Bereich Schule. Doch sie lernen vor allem anderen:  Freiheitlich-demokratische Werte, soziale Kompetenzen und die wichtige personale Kompetenz der Selbstregulation. Sie werden geschult in Bedürfnisaufschub und Frustrationstoleranz. Das zu erreichen ist nicht leicht und kann nur gelingen, wenn alle Seiten es wollen. Es bedarf engagierter Fachkräfte, Zeit und eines Teams von Lehrern und Eltern, die diese Ziele gemeinsam verfolgen.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist dafür auf die Grundbedürfnisse aller Kinder hinzuweisen, die es im Rahmen dessen zu erfüllen gilt. Wie in dem Buch „Bei Stop! Ist Schluss“ so treffend gesagt wird: „Der Erziehungsauftrag ist kein lästiges ‚Anhängsel‘ des zentralen Bildungsauftrags, sondern umgekehrt: Der Bildungsauftrag ist Teil des Erziehungsauftrags.“ Mit den Kernbedürfnissen aller Kinder nach 1.) Orientierung, Sicherheit und Schutz, 2.) Bindung, Beziehung und Zugehörigkeit, 3.) Einfluss, Beteiligung und Selbständigkeit, 4.) Anregung, Spaß und Lernen, 5.) Anerkennung, Respekt und Wertschätzung sind folgende  Erziehungsaufgaben verbunden: Mit Grenzen und Regeln arbeiten, den Kindern Zeit und Zuwendung schenken, Freiräume und Mitwirkungsmöglichkeiten anbieten, den Wissensdurst und den Bewegungs- und Erlebnishunger stillen, Ermutigungen und Erfolgserlebnisse vermitteln. Doch ist es bekanntermaßen leider so, dass viele Schulleiter und Lehrer unter ungeeigneten strukturellen Rahmenbedingungen leiden, kein Platz für ein kreatives Engagement bleibt und es an genügend Zeit zur Erfüllung der dringend notwendigen Erziehungsaufgaben fehlt (siehe Thomas Grüner, Franz Hilt, Corinna Tilp: „Bei Stop! Ist Schluss.“, aol-Verlag, 13. Ausgabe, 2016, S. 17. Das Buch ist Teil des Programms „Konflikt-Kultur. Demokratie – Bildung – Prävention.“). 

Aus meiner Sicht kann es nicht sein, dass dann noch ein hochbrisantes politisches Thema in den Bereich Schule hineingetragen wird und auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden soll. Nein! Die Kinder sollen mit der Debatte über religiöse Symbole und all dem, was daran hängt, meiner Meinung nach in Ruhe gelassen werden. Das geht nur, wenn die Freiheit von Religion bei Kindern gewährleistet wird. Ich bin auch für das Verbot des Kopftuchs bei Kindern unter 18 Jahre. In Deutschland gelten alle Kinder unter 18 Jahre als Schutzbefohlene. Ab dem 18. Lebensjahr dagegen können sie dann freie und verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen.

Die Kinder und Jugendlichen wachsen in ihrer Schullaufbahn zu erwachsenen Persönlichkeiten heran und bilden sich ihr eigenes Bild und ihre eigenen Vorstellungen des Lebens und das eigenständig und unabhängig von Familie, Tradition und eventuell vorliegenden obskuren Weltvorstellungen oder bislang unreflektierten Aberglauben. Die Freiheit von Religion im Bereich Schule ermöglicht offene und freie Begegnungen, ein freies Miteinander einer Vielfalt von Menschen mit den unterschiedlichsten Gedanken, Ideen, Illusionen, Philosophien und Vorstellungen. Der Gegensatz von Bildung und Religion muss auch klar herausgestellt werden. Bei Bildung geht es um die Vermittlung von überprüfbaren Fakten und Erkenntnissen, es geht um historisches chronologisches Wissen, es geht darum, Ereignisse gut einordnen und interpretieren zu lernen. Es geht darum, dass Kinder lernen ein unabhängiges Urteil zu fällen. Es geht aber auch um Abenteuer und Spaß: Alle Kinder haben das Recht auf gemeinsame Klassenfahrten, Sportaktivitäten und freies Schwimmen.

Bildung ist ein Kinderrecht, das in der von Deutschland unterschriebenen UN-Kinderrechtskonvention verankert ist. Bis zu dieser klaren Positionierung Deutschlands war es ein langer Weg, und nun seit der Zeit um die Jahrtausendwende herum gilt das Recht der Kinder nicht nur auf Bildung, sondern auch ihr Recht auf physische wie psychische Unversehrtheit, auf Förderung eines gesunden Lebens und gesunder Umweltbedingungen, all dies verbunden mit ihrer Partizipation; dazu kommt die Entwicklung eines angemessenen Lebensstandards für alle Kinder. Das Recht auf Gesundheit schließt u.a. die Aufklärung von Eltern ein, die bei Mädchen aus religiösen oder traditionellen Gründen eine Kleidung fordern, die die ganze Haut bedeckt oder den Schwimmunterricht untersagen bzw. nur eingeschränkt erlauben. Die Folge ist ein Mangel an Kontakt mit der Sonne, ein Mangel an Vitamin D und ein Mangel an freier körperlicher Bewegung. 

Auch das fällt für mich unter das Thema „Erhalt des Neutralitätsgesetzes – ja oder nein“.  Wer jetzt dafür plädiert, dass jede einzelne Schule, also Eltern, Lehrer und Schulleitung einer jeweiligen Schule untereinander klären sollen, wie sie mit religiösen und politischen Zeichen umgehen, wer diese Debatte in die Schulen hineintragen will, der stört aus meiner Sicht den Schulfrieden. Wer der Meinung ist, das Neutralitätsgesetz diskriminiere, der hat nicht das Recht auf Bildung aller Kinder im Sinn. Solch eine Haltung kann meines Erachtens nur in Zusammenhang mit Verharmlosung, Bagatellisieren und Ausblenden der Wirklichkeit stehen.

In einer Schullaufbahn durchlebt ein jedes Kind und später Jugendliche Entwicklungsphasen, die aufeinander aufbauen und nur dann aufeinander aufbauen können, wenn vorherige Phasen gut durchlaufen werden konnten. Mit den verschiedenen dabei erlebten individuellen Konflikten zwischen Innen und Außen und den gefundenen Lösungswegen entwickelt sich eine erwachsene Persönlichkeit, die weiß, mit Konflikten und Krisen umzugehen, sich zu schützen und sich bei Bedarf Hilfe zu holen. Damit wird die Reife gewonnen, mit der auch die Verantwortung eines Einzelnen im gesellschaftlichen Kontext gesehen und übernommen werden kann. Mit dem Erwachsenwerden einher geht die Positionierung und Klärung des eigenen Verhältnisses zur Demokratie. Teenager, die fühlen, dass ihre Eltern ihnen wirklich zuhören und ihnen emotional nahe sind, direkt und nicht über Umwege, haben weniger Probleme auf dem Weg, erwachsen zu werden.

Das ist doch der Kern der Erziehung: Die liebevolle, wohlwollende elterliche Begleitung der Kinder mit der sukzessiven Übergabe zur Verantwortungsübernahme für ihr eigenes Leben ohne Determinierung. Aus meiner Sicht ist eine kontinuierliche Elternarbeit an Schulen flächendeckend dringend notwendig, um das Recht auf einen selbstbestimmten Weg umzusetzen. Denn manche Eltern müssen eben diese Freiheiten selbst erst erlernen und wissen nicht automatisch, wie sie mit (auch neuen, noch nie gekannten) Freiheiten umgehen sollen. Ihre Ängste und Sorgen gilt es rechtzeitig aufzufangen.

Daher möchte ich auch bei der Debatte um religiöse Zeichen in einer Schule folgendes hinzufügen: Statt darüber nachzudenken, wie das Neutralitätsgesetz abgeschafft werden kann, sollte alle Energie in Ideen und Handlungen fließen, dieses Gesetz in seiner Umsetzung zu verbessern. Als Beispiel ist die Umsetzung der negativen Religionsfreiheit zu nennen, also Freiheit von religiösen Symbolen bei Schülerinnen. Das darf einfach nicht vergessen werden. Das Thema ist eingebettet in eine ganze Reihe von Angriffen gegen demokratische Werte und Normen und gegen freie Menschen in Deutschland, in ganz Europa und weltweit. „9-11“ ist eine Zäsur für uns alle gewesen. Wer das ausblendet und bagatellisiert, dessen Empathiefähigkeit kann nur gering ausgeprägt sein, oder es handelt sich um ein Meisterstück an Verdrängung. Was ist, will nicht jeder wissen. Ich denke hier daran, dass nicht nur eine Gefahr von einem militärischen, barbarischen, gewalttätigen Djihad ausgeht, sondern auch von einem geistigen Djihad. Das wird uns noch viele, viele Jahre beschäftigen.

Und egal, ob nun die Hetze gegen Demokratie von linksextremer, islamistischer oder völkischer Seite kommt, in jedem Fall müssen die Rechte der Kinder geschützt werden. Die antidemokratischen Phänomene müssen wahr- und ernstgenommen werden und bedürfen präventiver Maßnahmen. Wer die Folgen in seinem Bestreben, das Neutralitätsgesetz abzuschaffen, ausblendet im Sinne eines  Kampfes gegen eine angebliche Diskriminierung, der verkennt, dass diejenigen, die für ihn scheinbar diskriminiert werden, gerade durch die Klarheit geschützt werden, dass die staatlichen Gesetze vor den religiösen in Deutschland Vorrang haben. Wird dieses Gesetz hier in Berlin, einer Stadt mit einer pluralen Gesellschaft, abgeschafft, heißt es für eine Gruppe von Kindern und Erwachsenen einem religiösen, traditionellen und politischen Druck ausgesetzt zu werden. Die Folgen sind Anpassung, Habituation oder Flucht.

Nein zu den Versuchen, das Neutralitätsgesetz abzuschaffen. Und ja, für den Erhalt des Neutralitätsgesetzes! Denn es bedeutet Vielfalt, Schutz und die Umsetzung des Rechts auf Bildung für alle Kinder miteinander.

 

Berlin, den 13.6.18                                                Laurence Kirmer   

Laurence Kirmer ist in Berlin als  Kinder-  und  Jugendlichenpsychotherapeutin tätig.

 

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