Lehming auf Irrwegen – Stellungnahme zum Kommentar von Malte Lehming im Tagesspiegel

„Der Kommentar im Tagesspiegel (Sonntagsausgabe vom 14. 01. 2018 und der Internetausgabe vom 16. 01. 2018) soll von Seiten der Initiative Pro Neutralitätsgesetz nicht unbeantwortet bleiben. Er stellt die Rechtslage schief und verzerrt dar und fällt durch einen Mangel an Kenntnis der Schulpraxis auf. Ulla Widmer Rockstroh, Pädagogin im Ruhestand und Sprecherin der Initiative und Jürgen Roth, Mitorganisator von „Pro Neutralitätsgesetz“ nehmen den Kommentar „auseinander“.

Hier nun zunächst die Antwort von Jürgen Roth

Lehming auf Irrwegen

Der Frontalangriff auf die überparteiliche Initiative „Pro Neutralitätsgesetz“ überrascht, da die Berichterstattung des Tagesspiegel bis heute gut recherchiert und fair war. Das wird hoffentlich so bleiben.

Anscheinend betrachtet der Autor die Stadt Berlin als Missionsgebiet, dem die abrahamitischen Religionen Christentum und Islam wieder Gottesfurcht beibringen sollen. Da irrt er. Nicht die säkularen Mitglieder der Initiative „Pro Neutralitätsgesetz“ proben die Parallelgesellschaft, sondern jene, die ohne Rücksicht auf andere sogar in den Kernbereichen staatlichen Handelns ihre religiösen Überzeugungen hervorheben.

In Berlin leben Menschen aus über 190 Nationen und vielen unterschiedlichen Sozialisationen und Kulturen zusammen. Das ist eine Bereicherung und sollte auch so bleiben. Gedeihliches Zusammenleben wächst nicht von allein; Vielfalt gestalten gelingt nur dann, wenn der Staat darauf verzichtet, sich mit einer bestimmten Religion zu identifizieren. Religiöse Symbole haben – ebenso wie politische – in Klassenräumen und Gerichten nichts zu suchen. Das gilt für das Kruzifix an der Wand ebenso wie für die Halskette mit christlichen Symbolen und die religiöse Tracht, die von einigen islamischen Lehren (eben nicht von allen!) verlangt wird. Nicht nur das pädagogische Personal hat Rechte, sondern auch Schulkinder, die ungefragt religiös beeinflusst werden. Im juristischen Fachchinesisch heißt das „negative Religionsfreiheit!“

Apropos Rechtsprechung: Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten. Die haben – was höchst selten passiert – unterschiedlich entschieden. Der zweite Senat lässt eine „abstrakte“ Gefahr für den Schulfrieden für ein Verbot religiöser Bekleidung ausreichen. Der erste Senat ist strenger; er verlangt die „konkrete“ Gefahr – also einen ordentlichen Krach in der Schule. Beide Senate erkennen damit trotz dieser Differenz an, dass religiöse Symbole keineswegs ohne Rücksicht auf Verluste zulässig sind.

Dennoch ist die Rechtsprechung so widersprüchlich, dass eines schönen Tages eine allseits verbindliche höchstrichterliche Entscheidung fallen muss. Um Klarheit zu schaffen, sollte der Berliner Senat in den anstehenden Streitfällen auf ein solches Urteil über das Berliner Neutralitätsgesetz hinwirken, statt wie bisher durch Zahlung von Entschädigungen auch noch nach Canossa zu gehen. Die Richtigkeit dieser Konsequenz kann Malte Lehming nicht durch die persönliche Diffamierung des Verwaltungsjuristen Dr. Czermak verschleiern, der darauf hingewiesen hat, dass sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eben nicht die Verfassungswidrigkeit des Berliner Neutralitätsgesetzes ableiten lässt.

Falsch ist auch die Behauptung, religiöse Symbole dienten der Integration; welch ein Fehlschluss! Ist es etwa der Integration von Kindern dienlich, wenn sie nicht nur von zu Hause und aus Ihrer Glaubensgemeinschaft heraus, sondern auch noch von Schulpädagog*innen – ob beabsichtigt oder nicht – gedrängt werden, “züchtige“ Bekleidung zu tragen.

Soll etwa die Geschichtslehrerin mit islamischem Kopftuch künftig Kindern aus jüdischen Familien in Berlin die historischen Wurzeln des Palästina-Konflikts erläutern? Soll ein als in der Verhandlung als evangelikal erkennbarer Richter über die Strafbarkeit der Auseinandersetzung mit seiner- oder einer anderen Religion urteilen? Nein! Je vielgestaltiger die Gesellschaft, umso mehr müssen sich die einzelnen Mitglieder darauf verlassen können, sich keiner aufgenötigten religiösen Betätigung der Staatsdiener aussetzen zur müssen.

Das Berliner Neutralitätsgesetz garantiert Neutralität dort, wo Menschen der Staatsgewalt nicht ausweichen können, sei es vor Gericht, bei der Polizei, im Justizvollzug oder an allgemeinbildenden Schulen. Von Richter*innen, Polizist*innen und Pädagog*innen an allgemeinbildenden Schulen kann verlangt werden, am Dienstort politisch oder religiös geprägte Symbole abzulegen.

2 Kommentare

  1. Die hier erschienene Antwort auf Malte Lehming spricht mir förmlich aus der Seele. Ich hoffe inständig, dass sich dieser Trend der „Religionisierung“ staatlicher Bereiche nicht weiter ausbreitet.
    Ich würde jeder Frau, die wegen ihres Kopftuchs tätlich angegriffen wird, beistehen und bin auch der Meinung, dass Viele, die sich in diversen Foren geäußert haben, mit ihren beleidigenden Kommentaren über das Ziel hinausgeschossen sind.
    Aber religiöse Symbolik im Staatsamt kann auch ich aus den von Herrn Roth genannten Gründen nicht gutheißen.
    Vielen Dank für die Gegendarstellung!

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